Dolomiten Höhenweg

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Der Dolomiten Höhenweg


D er Fuchs, der vor uns über den Weg springt, holt sich im taunassen Gras noch feuchte Pfoten. Rund um den Pragser Wildsee ist es morgendlich still. Das altehrwürdige Hotel am Nordufer, an dem schon Erzherzog Franz Ferdinand vorfuhr, lag im Märchenschlaf. Die erste Etappe des Dolomiten Höhenwegs Nr. 1 beginnt mit einer Seepromenade. So mühelos bleibt es natürlich nicht. Bis zum Ende der acht bis zwölf Tage werden sich über 7.000 Höhenmeter aufsummiert haben. Trotzdem ist dieser „klas-
sische Weg" einer der einfachsten Dolomiten Höhenwege. Zehn sind es geworden, aber für den Beginn ist die Num-
mer eins noch immer die beste Wahl. Ein Klassiker eben. Und das nicht zu Unrecht, führt er doch durch besonders schöne Landschaften der Dolomiten wandern.

MAGISCH ANZIEHEND, SAGENHAFT SCHÖN
Doch erst einmal heißt es, sich an das Rucksackgewicht zu gewöhnen und den richtigen Tritt zu finden. Am Südende des Sees bleibt das Gelände kurz flach, Schotterflächen ziehen ins Kar zwischen Großem Jaufen und Seekofel hinauf, bald beginnt der Weg Serpentinen zu machen.
Im Nabigen Loch ist man hoch genug, um jenseits des Pustertals auf die Pfunderer Berge und die Zillertaler Alpen zu blicken. Vom breiten Weg Richtung Jaufen und Rosskopf zweigt die Nummer 1 nach rechts ab. Im „Ofen", wie das folgende Hochtal heißt, ist es trotz des Namens noch ange-nehm kühl. Das Gehen macht Spaß, vom Kamm streicht ein Lüftchen herab, die wunderbar geschichtete Ofenmauer (2.458 m) sieht ganz so aus, als hätte sie ein Maurer als Meisterstück angefertigt.
Die Ofenscharte. Nach zweieinhalb Stunden haben wir sie erreicht. Stefan kommt ein paar Minuten nach uns an und hat halb so lang gebraucht. Kurze Hose, Turnschuhe, ein Laufrucksack. „I wui schauen, wie weit i komm. Belluno wär super." Drei Tage hat der Athlet aus der Gegend von Innsbruck Zeit. Ein spannendes Projekt, für das wir ihm viel Spaß wünschen, dann ist er mit lockerem Trab dahin. Wir sitzen noch ein paar Minuten bei dem kleinen Altar, der nach Süden gerichtet ist, als wollte er sagen: „Schaut's! Is des net wunderbar!" Ein paar Minuten unterhalb steht die Seekofelhütte, ein erstes Etappenziel. Vor uns aber tut sich das Dolomitenpanorama auf. Spontan werfen wir alle „guten Vorsätze" über Bord: Den Seekofel als Gipfel und die Nächtigung auf der Hütte streichen wir. Nicht, dass nicht beide höchst attraktiv wären, aber die bleichen Berge vor uns ziehen uns magisch an. Die Neugier, was hinter dem nächsten Rücken liegt, was man im nächsten Tal sieht, ist übermächtig. Auch wir müssen einfach weitergehen!
Der Seekofel verabschiedet uns mit zerfressenen Karst-platten, bald flattern die Schmetterlinge über das Wiesen-gelände. Vorbei an der Senneshütte und steil hinab nach Pederü, dem Talschluss des Rautals. Ein großer Parkplatz und eine Pension - mehr ist Pederü nicht. Hier ist der erste Durchgang des Jojo-Spiels geschafft: rauf 800 Höhenmeter, runter genau so viel.
Die Wilden Frauen wohnen hier, die Murmeltierprinzessin und Spina da Mul, ein Zauberer, der als Maultiergerippe Angst und Schrecken verbreitet. Ist man in der Fanes unterwegs, wird schnell klar, warum hier ein so reicher Schatz an ladinischen Sagen angesiedelt ist: Die Landschaft lädt dazu ein. Eingerahmt von bizarren Bergformen birgt die Hochfläche versteckte Täler, wunderbare Seen, Almweiden und im Kleinen einen äußerst abwechslungsreichen Formenschatz.
„So wie bei meiner Mama mit den Gartenkräutern. Wenn Dill da war, hat sie überlegt, was man zu Dill kochen kann." Genauso, sagt Johanna, hätten ihre Freundin und sie die Dolomitenwanderung geplant: als erstes zwei Nächte auf der kleinen Lavarellahütte reserviert und dann geschaut, was man damit kombinieren könnte. Herausgekommen ist der erste Teil des Dolomiten Höhenwegs 1. Jetzt kühlen Tanja und sie die Füße im Grünsee auf der Klein Fanesalm und überlegen, ob sie morgen zum Paromsee wandern, den Zehner besteigen oder bei Espresso und Strudel an der benachbarten Faneshütte, der zweiten Übernachtungsmöglichkeit auf der Fanes, chillen sollen.
Ein Ruhetag schon am zweiten Tag? Gehtempo, Gipfel-besteigungen und die Verteilung der Ruhetage sind auf einer Durchquerung immer brennende Fragen. In der Gruppe oder mit vorreservierten Übernachtungen muss man sich dazu frühzeitig Gedanken machen. Eine ganze Lebensphilosophie steckt dahinter. Bleiben und genießen? Oder dem Ziel entgegen und möglichst viel Neues sehen? So faszinierend Stefans Drei-Tage-Tour ist, so attraktiv wirkt auch Johannas Urlaubswoche.
EIN GIPFEL UND ACHT PASSE
In kindlichem Übermut und bar jeder Vernunft treffen wir unsere Entscheidung. Am Morgen des zweiten Tages schultern wir die Rucksäcke, wandern über den Limosee zur Groß Fanesalm, verstecken im Cunturinestal eine große Tüte mit Ausrüstung und biegen mit leichtem Gepäck Richtung Lavarella ab. 900 Höhenmeter zusätzlich kostet die Besteigung dieses Gipfels. Direkt am Weg liegt er wirklich nicht und in der zweiten Tageshälfte werden wir den Kopf schütteln über diese Idee. Aber erst einmal freuen wir uns über den stillen Cunturinessee, Felsgipfel wie Bauklötze und den tollen Ausblick auf die Marmolada.
Am Nachmittag sind wir zurück auf der Alta via. Über die Forcela di Lech tauchen wir ins Lagazuoigebiet ein. Ja, so stellt man sich die Dolomiten vor! Felsig und wild. Am Lagazuoi steht als Highlight eine Übernachtung am Gipfel bevor. Die Tagesgäste der Lagazuoihütte sind bereits alle verschwunden, der Sonnenuntergang findet in aller Stille statt. Erst kurz vor dem Zapfenstreich kommt die Landkarte auf den Tisch. Wie weit gehen wir morgen? Rifugio Averau oder Nuvolau? Auch die Cinque Torri-Hütte und das Rifugio Croda da Lago wären möglich.
Wie bei den meisten der Dolomiten Höhenwege lässt die Nummer 1 Varianten zu: einfachere Wege, die versicherte Passagen umgehen, oder einen Talort ansteuern. So auch am Tag drei am Falzaregopass. Am Ende überqueren wir die Straße an der einzigen Stelle, die auf der Tabaccokarte nicht mit dem blauen Dreieck der Alta via gekennzeichnet ist, nämlich direkt oben am Pass. So verliert man am we-nigsten Höhe. Außerdem ist der Kont-rast wunderbar: morgens der Sonnen-aufgang am Lagazuoi, keine zwei Stunden später knatternde Motorräder, sächsische Reisebusse und Andenken-läden. Ein paar Schritte weiter und der Spuk ist vergessen. Nur ein paar Wan-derer mehr sind unterwegs, denn die Hüttendichte ist rund um die Cinque Torri so hoch wie sonst nirgends am Alta via 1. Am schönsten liegt die Nu-volauhütte: Sie thront auf dem Nuvo-lau und genießt 360°-Rundumblick. Zeit für eine Jause und ein paar flotte Sprüche, die man an den Nachbarti-schen aufschnappt.
Weitergehen zum Pelmo oder bleiben? Heute morgen haben wir den Pelmo vom Lagazuoi gesehen. Unglaublich, wie weit er weg war. Wenn wir zum Passo Giau absteigen und das gleichnamige Hotel verschmähen, dann warten acht Pässe bis zur Citta-di-Fiume-Hütte an seinem Fuß. Da heißt es „Gas geben".
Von der luftigen Weite an der Nuvolauhütte knickt die Ferrata Ra Gusela in die Ostflanke ab und bringt uns flott hinunter zum Passo Giau. Dann beginnt das Auf und Ab: hinauf zur Forcella di Zonia, unter dem Piombin hindurch in die Scharte 2.239, hinab ins Val Cernera, hinauf in die Forcella Giau, unter den Kletterwänden des Monte Formin hinab, an der Fundstelle mesolitischer Gräber vorbei in die Forcella Ambrizzola. „Vier von acht Pässen. Die Hälfte haben wir schon." Ich meine einen Hauch von Ironie aus An-dis Stimme zu hören.
Naja, die Forcella Col Duro ist nicht weit. Forcella de Col Roan, Forcella Roan, Forcella, de la Puina ... Wen wundert es, dass ich im Rifugio Citta di Fiume erstmals hoffe, nicht im Stockbett oben zu schlafen.
AUF GROSSEM FUSS
Der vierte Tag, kaum zu glauben. Sind wir nicht schon ewig unterwegs? Heute steht alles im Schatten des Monte Pelmo. Was für ein Berg. Das Nordkar sieht aus wie ein eisgefüllter Kessel, die Südflanke ist eine steile, felsige Wildnis, durch die in riesigen Kehren der Normalweg ein Durchkommen sucht. Die schönste Verbindung vom Rifugio Citta di Fiume hinüber zur Civetta schlägt einen großen Bogen und umrundet den Pelmo in einem Tag fast komplett. Die kürzeste Verbindung dagegen steigt einfach in einer Stunde zum Passo Staulanza ab.
Die Wolkenfetzen geben den Blick auf ein Stück Fels frei. Dann ist es wieder verschluckt. Ein Dino könnte seinen Kopf durch das Grau stecken - wir würden ihn erst in dem Moment bemerken, wenn er mit der Nasenspitze vor uns stünde. Dinos sind gar nicht so selten am Monte Pelmo. Auf seiner Südseite sieht man ihre Fußabdrücke noch. Doch so weit sind wir noch nicht, noch steigen wir durch die Wolken auf in die erste Scharte Val d'Arcia. Durch viel Geröll führt der Steig jenseits zum Rifugio Venezia, einer Hütte in wunderbarer Lage unter dem Pelmo. Keine zwei Kilometer Luftlinie sind es vom Stammtisch zum Gipfel, dafür gut 1.200 Höhenmeter. Das fühlt sich an, als wenn man in den Straßenschluchten von New York steht und zu den Wolkenkratzern hinaufblickt.
Heute kratzt sogar das Hüttendach an der Wolkenun-terkante. Kein Dinowetter, nur zwei Pelmo-Besteiger kreuzen für Momente aus dem Nichts auf. Erst am Nachmittag wird das Wetter besser, als wir den kleinen Umweg zu den „Impronti dinosauri" machen, der Felsplatte mit den verstei-nerten Dinospuren. Die haben auf ganz schön großem Fuß gelebt!
Gelb, orange, rötlich, rot, blau. Das Farbenspiel an der Civetta bei Sonnenuntergang werden wir uns nicht entgehen lassen. Danach richten wir Tag fünf aus. Gemütlich bummeln wir vom Staulanzapass hinauf ins Wiesengelände nördlich der Civetta, steigen durch Eisenhut und Schmetterlingswiesen auf zur Coldaihütte, machen lange am Coldaisee Pause. Mehr als einen halben Tag haben wir aber noch immer nicht verbummelt. Den Rest verbringen wir rund um die Tissihütte. Wie ein Beobachtungsposten sitzt die auf einem der Civetta vorgelagerten Geländesporn, dem besten Platz für eine Geburtstagsfeier.
„350 werden mir heut! Und wenn er net so ein Jungspund wär`, wären mir sogar noch älter." Fünf Rentner aus dem Pustertal feiern auf der Tissihütte ihren 350. Geburtstag. Mit Rotwein, Speck und Civettablick. Für mich ist die Civetta eine der schönsten Wandfluchten der Dolomiten. Und heute die schönste überhaupt. Sechs Kilometer liegen zwischen der Coldaischarte im Norden und dem fulminanten Abschluss des Felskamms mit dem Torre Venezia.
Sechstausend Meter „unbezwingbarer" Fels. Als Solleder und Lettenbauer die Wand in den 20er Jahren erstmals durchstiegen, werteten das die Zeitge-nossen als Meilenstein. Der sechste Grad war eröffnet in den Dolomiten. Irgendwo in dieser Felsmauer müssen die beiden herumgeklettert sein, müssen einen Weg nach oben gefunden haben. Selbst wenn man weiß, dass es möglich ist, erscheint es unglaublich. Wieviel mutiger muss es 1925 gewesen sein, ohne dieses Wissen.
Langsam ändert sich die Farbe des Lichts, langsam wird das Gelborange intensiver. Zum Ende hin geht es dann schnell. Die Abfolge von Orange zu Rot und dann das Höhenwandern der Schatten rast regelrecht dahin. Die letzten Felstürme haben noch Licht, dann nur noch der Gipfelbereich, der Gipfel selbst und - Schluss. Ein wenig leuchtet die Wand nach, dann wird sie rasch stahlblau. Ganz ergriffen bleiben wir sitzen. Doch schließlich wird es zu kalt, die warme Stube der Tissihütte lockt, die Geburtsfeier ist schon in vollem Gang.
3:1. Nein, kein Fußballergebnis, sondern das Verhältnis von Übernachtungsgästen zu Betten. So soll es an schönen Sommerwochenenden stehen auf dem Rifugio Carestiato. Kein Wunder, denn zu den Alta-via-Wanderern kommen die Kletterer, die die prächtige Südseite des Civettastocks im Auge haben, und vor allem auch einige Klettersteigliebhaber. Für sie ist „der Costantini" auf die Moiazza Sud das Wunschziel. Nach einem eindrucksvollen sechsten Tag auf der Westseite der Civetta steigen wir daher notgedrungen ab, an der überfüllten Carestiato vorbei und bis zum Passo Duran, wo zwei Hotels den Ansturm auf die Hütte abpuffern. Taxi Achensee
NOCH EINMAL KLASSISCH SCHÖN
Das Finale. Nach Pragser Dolomiten, Fanesgruppe, Lagazuoi, Cinque Torri, Pelmo und Civetta-Moiazza steht jetzt noch die Schiara zwischen uns und Belluno. Auf der Dolomitenkarte haben wir uns dem Blattrand schon bis auf ein paar Milimeter genähert. Nun nähern wir uns Gipfeln wie der Cima Nord di San Sebastian, dem Tamer und der Cima di Pramper. Kaum jemand bei uns kennt diese Namen. Es ist ruhig geworden, Gämsen trifft man mehr als Wanderer. Über Wiesen und durch Latschen wandern wir auf das Rifugio Pramperet zu. Längst ist das Gehen eine Selbstverständlichkeit. Die Bergschuhe sind an den Füßen, so wie Haut auf den Knochen ist - man denkt gar nicht darüber nach. Erst am Nachmittag auf der Hütte, wenn wir den Rucksack abstellen und die Schuhe ausziehen, um barfuß hinüber ins Nebenhaus zu gehen, erinnert man sich, dass Bergschuhe nicht die Normalität sind.
Der vorletzte Tag bricht an. Die nächste Hütte, das Rifugio Pian de Fontana, liegt ein wenig zu nah, wir haben den Duft des Frühstückskaffees noch fast in der Nase. Also gehen wir weiter, um mit dem Rifugio Bianchet eine bessere Ausgangslage für den letzten Tag zu bekommen.
Der letzte Tag: die Überschreitung der Schiara. Um sie kreisen die Gedanken seit dem Start, ja, sogar als die Planung begann, nahm die letzte Etappe bereits eine Schlüsselrolle ein. Der letzte Anstieg der Alta via führt in die Forcella Marmol und selbst ohne den Gipfel der Schiara muss man im Abstieg den Marmol-Klettersteig (B/C) gehen. Da auch die Route München - Venedig hier verläuft, hat sich schon die halbe Weitwandergemeinde darüber den Kopf zerbrochen, ob man nun für zwei oder sogar vier Wochen ein Klettersteigset und vor allem einen Helm mit in den Rucksack packen muss oder ob man an der Schiara vorbei Belluno ansteuern soll. Die Antwort muss jeder für sich selbst finden.
Im Schein der Stirnlampe starten wir an der Bianchethütte, steigen abseits der Alta via über den Berti-Steig zur Schiara auf, freuen uns am Gipfel über den letzten Sonnenaufgang der Tour und sind eineinhalb Stunden später am Fuß der versicherten Passagen, bevor der erste Wanderer vom Rifugio 7. Alpini dorthin aufgestiegen ist. Wir setzen uns ins Wiesengelände. Geschafft. Durchgekommen, wir sind am Blattrand, gleich neben Anschlusskarte und Copyright. Die Eisdiele ist fast schon zu sehen, der Espresso zu riechen. Belluno wartet schon auf uns.